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Antira Landtag Watch (26): Juni 2022 – Schein und Sein: Flucht aus der Ukraine, Mauern um Europa und verwirkte Bleiberechts-Chancen |
Schon in unserem letzten Newsletter im März schrieben wir über die Fluchtbewegung aus der Ukraine. Es sollten Maßstäbe für den Umgang mit den Geflüchteten aus diesem Herkunftsland für künftige Fluchtbewegungen gesetzt werden, so die Hoffnung. Unter anderem die unkomplizierte aufenthaltsrechtliche Lösung, die die Europäische Union für die Menschen aus der Ukraine fand, war nahezu revolutionär, muss den Leuten so doch nicht das repressive Asylverfahren zugemutet werden. Die Fluchtbewegung reißt derweil nicht ab und es offenbaren sich auch hier folgenreiche Schwachpunkte im behördlichen Handeln. Gleichzeitig ist von Gleichbehandlung aller Flüchtenden nicht zu reden.
Wir blicken zudem erneut nach Polen, schauen uns an, was sich mit der Gesundheitskarte für Alle tut und nehmen die neuesten Entwicklungen beim geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht der Bundesregierung wie der Debatte im Sächsischen Landtag in den Blick. |
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Aus der Ukraine fliehen, in Sachsen ankommen. |
Allein in Leipzig sind inzwischen knapp 10.000 Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, registriert. Immer noch ist eine große Mehrheit, circa 85 Prozent, privat untergebracht. Die restlichen Personen leben in einer städtischen Unterkunft oder haben sich bereits wieder abgemeldet. Eine Übersicht der landesweiten Verteilung von ukrainischen Geflüchteten zum 3. Juni 2022 findet sich hier: https://jule.linxxnet.de/wp-content/uploads/2022/06/ukr-sachsen-030622.png
Die Bereitschaft, sich ganz praktisch solidarisch zu zeigen, ist weit verbreitet, nicht nur in Leipzig, sondern in ganz Sachsen.
Jedoch: die Stadt Dresden hat inzwischen einen Aufnahmestopp verhängt. Und Leipzig hat zwei kommunale Zeltstädte am Deutschen Platz und auf der Arno-Nietzsche-Straße aufgebaut und einem privaten Eigentümer für viel Geld eine Unterkunft abgekauft, die ihr bis 2014 selbst gehörte. Es zeigt sich, dass über Jahre versäumt wurde, ordentliche Konzepte für die Unterbringung von geflüchteten Menschen aufzulegen. Das Mantra "2015 darf sich nicht wiederholen." war schon immer falsch und kollidierte spätestens mit dem von Ministerpräsident Michael Kretschmer angekündigten Ziel, dass ukrainische Geflüchtete prioritär dezentral in Wohnungen unterkommen sollen.
Doch nicht nur das, an einem weiteren entscheidenden Punkt muss von regelrechtem Versagen gesprochen werden. Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, und zunächst in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes unterkamen, erhielten fast 3 Monate lang keine Sozialleistungen. Erst ab dem willkürlich erscheinenden Datum 16. Mai wurde das Land dem Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gerecht, so die Sozialministerin Petra Köpping in Antwort auf eine Kleine Anfrage von Jule (https://jule.linxxnet.de/kriegsopfer-in-der-erstaufnahme-erhielten-monatelang-keine-sozialleistungen-landesdirektion-handelt-ungerecht-22-06-2022/#more-22867). Es liegt nah, dass die Geldzahlungen erst in Gang kamen, als Medien und Politik nachfragten. Im Mai berichtete MDR exakt zum Thema. „Die, die im Krieg sind, schicken uns Geld“, sagt dort eine geflohene Frau. Zu Wort kamen dort auch zwei ukrainisch beziehungsweise russischsprachige, ehemalige Sozialarbeiter:innen der Johanniter, die entlassen wurden, weil sie ukrainischen Geflüchteten die Kontakte zu Journalist:innen weitergaben. Das sei Teil von Demokratie, meint einer von beiden und so müssen sich die Johanniter tatsächlich fragen lassen, welches Verständnis sie von sozialer Arbeit in den Aufnahmeeinrichtungen haben. Der gesamte Beitrag hier
Diese Nachrichten erschüttern, wollte die Bundesregierung es doch gerade beim Sozialleistungsbezug leichter machen. Denn hatten qua Gesetz die Ukraine-Geflüchteten lediglich Anspruch auf das Asylbewerberleistungsgesetz, befinden sie sich nun seit 01. Juni im sogenannten "Rechtskreiswechsel" ins Sozialgesetzbuch II, auch Hartz IV genannt (ja, leider ist das tatsächlich eine Besserstellung). Diese Maßnahme sollte vieles vereinfachen, doch der Teufel steckt oftmals im Detail. DIE LINKE hat in diesem Zusammenhang ein weiteres Mal gefordert das Asylbewerberleistungsgesetzt komplett abzuschaffen und ALLE Geflüchteten in den Regelbezug des SGB 2 oder 12 zu überführen.
Bezüglich der Menschen, die eine andere als die ukrainische Staatsbürgerschaft haben, aber in der Ukraine studierten oder arbeiteten - Drittstaatler:innen genannt - spitzt sich die Lage auch auf Grund von rassistischem Behördenhandeln und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt noch einmal mehr zu. Waren es am Anfang durch die Bundespolizei entzogene Pässe sowie der Ausschluss vom temporären Schutz der EU für die ukrainischen Geflüchteten, setzt sich die Liste der Diskriminierungen weiter fort. Aushändigen soll die Pässe die Landesdirektion Sachsen, kommt damit aber nicht hinterher. Vereinzelte Drittstaatler:innen können sich so immer noch nicht registrieren, Sozialleistungen beziehen und auf die Suche nach Job oder Universität gehen. Auch die Stadt Leipzig entzog in einigen Fällen noch einmal Pässe, um sie wegen vorgeblicher Fälschungen überprüfen zu lassen. Immerhin: wer Pass und ukrainischen Aufenthaltstitel vorlegen kann, erhält in Leipzig die begehrte Fiktionsbescheinigung. Ein Dokument, welches den Antrag auf temporären Schutz, den Menschen aus der Ukraine erhalten können, bestätigt und unter anderem die Beschäftigung erlaubt.
Von den bis zum 16. Mai registrierten, 893 Drittstaatsangehörigen haben übrigens 834 Personen Anträge auf den temporären Schutz gestellt (https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=9702&dok_art=Drs&leg_per=7&pos_dok=1&dok_id=undefined, die Stadt Leipzig schlüsselt die Herkunftsländer in Antwort auf eine Stadtratsanfrage der LINKEN auf https://ratsinformation.leipzig.de/allris_leipzig_public/vo020?VOLFDNR=2005091&refresh=false, gerne auch in eurem/ihrem Kreis/ Stadt nachfragen!) Die, die nicht mit Ukrainer:innen verwandt oder verheiratet sind, müssen beweisen, dass sie "nicht sicher oder dauerhaft" in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Dass die Kompetenz für solche Entscheidungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegt und nicht bei den kommunalen Ausländerbehörden und was geschieht, wenn die Fiktionsbescheinigungen irgendwann mal auslaufen - auf all diese Fragen hat die Bundesregierung noch keine Antwort. Klar scheint aber zu sein: die Menschen werden nicht unkompliziert unter den temporären Schutz mehr fallen können.
Immerhin! Erste finanzielle Unterstützung für Unterstützer:innen hat das Land nun locker gemacht, insgesamt 1,3 Millionen Euro will die Staatsregierung auszahlen, 100.000 pro kreisfreier Stadt beziehungsweise Landkreis auszahlen. Dass das bei Weitem nicht alles sein kann, ist klar, haben doch Ehrenamtliche und Aktive gerade in Zeiten steigender Preise wahnsinnig viel Geld für geflüchtete Menschen aus der Ukraine vorstrecken müssen. Nicht zuletzt auf Grund ausgebliebener Sozialleistungen. Als "überfällig" kommentierte Jule diese Maßnahme und rief dazu auf, auch die Förderung der Psychosozialen Zentren wie der Migrationsberatungsstellen aufzustocken [https://jule.linxxnet.de/symbolische-anerkennung-fuer-kriegsopfer-hilfe-ist-ueberfaellig-echte-finanzielle-hilfe-aber-auch-31-05-2022/]. In Leipzig hat die Linksfraktion mit einem Antrag die Auszahlung einer "Zivilgesellschaftspauschale" gefordert, die für private Unterkunftsgeber*innen rückwirkend und unkompliziert ausgezahlt werden (https://jule.linxxnet.de/zivilgesellschafts-pauschale-fuer-gastgeberinnen-von-ukraine-gefluechteten-03-05-2022/)
Das Fazit, was hier zu ziehen ist: Sachsen muss wesentlich mehr tun, um auf kommende Fluchtbewegungen souveräner reagieren zu können. Der Sächsische Ausländerbeauftragte Geert Mackenroth identifizierte unter anderem die Kommunikation der Landesdirektion Sachsen als hochgradig verbesserungswürdig. Die Landesdirektion ist die zentrale Behörde in Sachsen, die die Aufnahme, Unterbringung und Verteilung von geflüchteten Menschen managen sollte, dabei aber seit Jahren überfordert ist. Entsprechende Forderungen der LINKEN wurden immer wieder laut, so auch in einem Antrag, der sich teils mit Mackenroths Forderungen deckte [https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=9468&dok_art=Drs&leg_per=7&pos_dok=0&dok_id=undefined]. Nicht zuletzt die erwähnte Aufstockung der Förderung von Psychosozialen Zentren und Migrationsberatungsstellen sollte dafür sorgen, dass zahlreiche orientierungslose Menschen auch wirklich kommuniziert bekommen, was für sie die nächsten Schritte sind. Bisher übernehmen diesen Job auch zahllose Menschen in ihrer Freizeit und berichten, dass sie zunehmend an ihr Limit kommen.
Und tatsächlich sollte auch dem letzten Innenminister bewusst werden, dass er was in seinem Laden ändern sollte, wenn Mackenroth und DIE LINKE einer Meinung sind [https://jule.linxxnet.de/linksfraktion-unterstuetzt-forderungen-des-auslaenderbeauftragten-allerdings-ist-die-gesamte-staatsregierung-in-der-pflicht-06-05-2022/].
Nützliche Tipps und Hinweise gibt es beispielsweise beim Sächsischen Flüchtlingsrat: https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/de/2022/06/01/ukraine-informationen-und-links/ …
...und bei Leipzig Helps Ukraine: https://leipzig-helps-ukraine.de/category/legal/
Für Entwicklungen auf Bundesebene lohnt es sich, die Website von PRO ASYL regelmäßig zu checken: https://www.proasyl.de/hintergrund/aktuelle-informationen-fuer-gefluechtete-aus-der-ukraine/ |
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Auf die Gesundheit! Karte statt Schein. |
Auch spannend: mit dem schon angesprochenen Rechtskreiswechsel, den ukrainische Geflüchtete seit 01. Juni vom Asylbewerberleistungsgesetz ins Sozialgesetzbuch II vollziehen, erhalten sie auch die elektronische Gesundheitskarte. Das ist gut! Denn alles andere hätte bedeutet, dass die Sozialämter noch mehr Behandlungsscheine vergeben und Entscheidungen über Symptome und Krankheitsbilder fällen müssen, wozu sie nicht qualifiziert sind.
Es ist aber nicht perfekt. Denn dieser Zustand, dass alle anderen geflüchteten Menschen weiterhin das System der Behandlungsscheine für die ersten 18 Monate ihres Lebens in Deutschland ertragen müssen, ist in vielen Fällen unerträglich. Deswegen braucht es die Gesundheitskarte für Alle! Auch Regierungspolitiker:innen in Land und Bund scheinen das nun endlich erkannt zu haben. Wir sind gespannt, wie die Verhandlungen mit den Krankenkassen in Sachsen ausgehen. Im Landtag lehnten CDU, Grüne und SPD den Antrag der Linksfraktion ab. [https://jule.linxxnet.de/die-ukrainischen-kriegsopfer-bekommen-zum-glueck-eine-gesundheitskarte-vielen-anderen-gefluechteten-fehlt-sie-noch-05-05-2022/]
Übrigens: die Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) sucht auch per Social-Media-Kampagne (https://www.instagram.com/p/Ce3GsiqMSUh/) nach Präzedenzfällen für das Bundesverfassungsgericht. Es geht um den Schutz kranker Menschen vor Abschiebungen - durch strategische Klagen! Alle Infos, mitsamt Musterklagen, hier: https://www.baff-zentren.org/aktuelles/schutz-schwerkranker-menschen-vor-abschiebung/ |
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Auf die Bundesregierung hoffen, von der Landesregierung abgeschoben werden? |
Das wäre fatal. Und genau deswegen haben Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Thüringen, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen sogenannte Vorgriffsregelungen auf den Weg gebracht. Damit wird den Plänen der Bundesregierung vorgegriffen, unter anderem ein "Chancen-Aufenthaltsrecht" zu etablieren. Das soll für all diejenigen greifen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind und zum Stichtag 01. Januar 2022 fünf Jahre oder länger in Deutschland gelebt haben.
Auch bei den Aufenthaltserlaubnissen zu "nachhaltiger Integration" stehen Änderungen an. Minderjährige wie Erwachsene sollen bereits nach kürzerer Zeit den Aufenthalt bekommen. Hierzu debattierte der Sächsische Landtag bei seiner Sitzung am 02. Juni. DIE LINKE hatte einen entsprechenden Antrag gestellt [https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=8958&dok_art=Drs&leg_per=7&pos_dok=1&dok_id=undefined], "Der Chancenaufenthalt würde auch in Sachsen vielen Menschen endlich die durch jahrelange Kettenduldungen vorenthaltene Teilhabe an der Gesellschaft zu gewährt zu bekommen und Steine beim Weg in die eigene Wohnung oder in Arbeit aus dem Weg räumen.", so Jule im Landtag: https://jule.linxxnet.de/gefluechteten-menschen-eine-bleibe-und-lebensperspektive-in-sachsen-geben-chancenaufenthaltsrecht-auch-in-sachsen-regeln-04-06-2022/
Fiel die Antwort der Staatsregierung bereits im Vorfeld negativ aus - unter anderem mit Verweis auf eine angebliche Rechtswidrigkeit einer solchen Regelung - bestätigte die Koalition mit ihrer Mehrheit im Landtag diese Linie. Ein Armutszeugnis für die beiden kleineren Koalitionspartner, die im Bund genau diese Regelungen durchsetzen wollen. Inzwischen liegt ein Referentenentwurf für die entsprechende Änderung des Aufenthaltsgesetzes vor, Pro Asyl hat dazu Stellung genommen: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/PRO-ASYL_Stellungnahme-zum-Entwurf-eines-Gesetzes-zur-Einfuehrung-eines-Chancen-Aufenthaltsrechts.pdf
Irritierend ist u.a.: wenn ein Familienmitglied eine Straftat begangen hat, die über ein Urteil von 90 Tagessätzen hinausgeht, sind auch alle anderen Mitglieder der Kernfamilie von der Aufenthaltserteilung ausgeschlossen. Außerdem soll der Chancenaufenthalt an die Erfüllung der Passpflicht gekoppelt werden. Dies würde zahlreiche Menschen von der Regelung ausnehmen. |
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15.000 in Bar auf dem Weg an die polnisch-belarusische Grenze. |
Wohl nichts hat den Rassismus Europas offengelegt, wie die Reaktion der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf zwei direkt aufeinanderfolgende Fluchtbewegungen. Kommen seit August 2021 zumeist Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Jemen oder dem Sudan über Belarus nach Polen in die Europäische Union und treffen dort auf Abschottung, können ukrainische Geflüchtete gar kostenfrei polnische und deutsche Bahnen benutzen. So sehen sichere Fluchtwege aus! Nun ist auch der geplante Zaun im Urwald zwischen Belarus und Polen so gut wie fertig und doch schaffen es nach wie vor Menschen über die Grenze.
Im Januar trafen wir mit der #nobordersdelegation Aktivist:innen, Anwält:innen, Berater:innen und Anwohner:innen des Urwalds. Letztere erzählten uns, dass sie dringend Geld benötigen, um sich Vier-Rad-Antrieb-Autos besorgen zu können. Polnische Behörden hatten die Wege im Urwald derart zerfurcht, dass die Autos der Anwohner:innen Schaden nahmen, wenn sie auf dem Weg zu den Schutzsuchenden waren, um sie mit Nötigsten zu versorgen. Also waren wir im Mai erneut dort und übergaben 15.000 Euro, die wir in einer Spendenkampagne gesammelt haben [https://jule.linxxnet.de/nobordersdelegation-uebergibt-spenden-an-polnische-lebensretterinnen-zwischen-polen-und-belarus-03-05-2022/].
Übrigens: wir haben die Anwohner:innen für den Clara-Zetkin-Preis der LINKEN nominiert. Ob sie gewinnen, werden wir am 24. Juni 2022 in Erfurt erfahren. |
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Wir wünschen gute Wochen und viel positive Energie.
Anregungen und Fragen nehmen wir gern in Empfang! Bis zum nächsten Newsletter! |
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