Auszuloten, was in Polen vor sich geht, wo tausende Schutzsuchende seit August letzten Jahres angekommen sind, herauszufinden, wie Unterstützer:innen arbeiten und wo sie selber support benötigen – das waren zwei Ziele unserer Delegationsreise vom 14. bis 16 Januar 2022.
Wir, das waren Cornelia Ernst , Mitglied des Europäischen Parlaments, Clara Anne Bünger, MdB, Katharina König-Preuss, MdL aus Thüringen, Henriette Quade, MdL Sachsen-Anhalt, Andrea Johlige, MdL Brandenburg und ich. Begleitet wurden wir durch migrationspolitische Aktivist:innen wie Journalist:innen von MDR, nd und taz.
Am ersten Tag der Reise trafen wir im nahe der deutsch-polnischen Grenze gelegenen Krosno Vertreter*innen der linken Parteien Razem und Nowa Lewica. Ursprünglich war der Besuch des Haftlagers in Wędrzyn geplant, wo 600 Geflüchtete inhaftiert sind. Eine offizielle Besuchsanfrage wurde abgelehnt, auch polnische Abgeordnete konnten nichts für uns erreichen. Im Gespräch mit unter anderen der Abgeordneten Katarzyna Kretkowska (Nowa Lewica) erfuhren wir einiges über die Situation im Lager. Die Männer sind dort willkürlich inhaftiert, was gegen EU-Recht verstößt. Die Menschen haben keinen Zugang zu Beratung, Rechtshilfe, keine Kommunikationsmöglichkeiten und nur minimale medizinische Versorgung (lediglich ein Arzt ist dort aktiv). Bis zu 20 Menschen müssen in einem Raum leben. Das Lager liegt im militärischen Sperrgebiet. Die Dauer der Inhaftierung ist unbekannt. Eine unwürdige Situation, die wir weiter auf dem Schirm behalten wollen. Zu konkreten Aktionen zu Wędrzyn, im weiteren Verlauf unserer Reise häufig auch als das schlimmste der insgesamt acht polnischen Haftlager mit zirka 2000 Inhaftierten Geflüchteten, die um Asyl suchen, genannt, sind wir im Gespräch.
Denn Aktionen sind offenbar nötig. Scheinbar ist es Seitens der polnischen Behörden nicht erwünscht, dass Abgeordnete aus anderen EU-Ländern Einblick in ihren Umgang mit Geflüchteten erhalten. Zuständig für die Absagen war jedenfalls der Militärische Abschirmdienst.
Weiter ging es nach Warszawa, wo wir den Abend mit Akteuren des Netzwerkes Grupa Granica, u.a. Bartosz Grucela und Maciej Konieczny von Razem, Anita Sowińska von Nowa Lewica und Tomasz Aniśko von Zeloni [Grünen] verbrachten, in einem wunderbaren queeren Lokal.
Am eindrücklichsten waren die Erzählungen der NGO-Vertreterin. Einige hundert Flüchtende seien derzeit noch im Wald zwischen Polen und Belarus unterwegs. Nicht nur, dass NGOs der Zugang zur Sperrzone verwehrt wird („Ärzte ohne Grenzen“ hat sich deswegen zum Beispiel kürzlich zurückgezogen), kommt es auch vor, dass Menschen von offiziellen medizinischen Stellen an die Grenzpolizei übergeben werden.
Der klare Appell an uns: Schaut hin. Sorgt dafür, dass Menschen aufgenommen werden. Und zwar nicht in Polen. Denn das ist derzeit kein sicherer Ort für Geflüchtete.
Tag 2 begannen wir mit einem Treffen mit drei beeindruckenden Frauen vom Migrant forum und der Helsinki fundacja. Diese arbeiten vor allem im Bereich des legal und humanitären supports. Sie schilderten die Ausnahmesituation in der Sperrzone, ein etwa drei Kilometer breiter Streifen entlang der 418 Kilometer langen polnisch-belarussischen Grenze, die seit September 2021 existiert. Weder NGOs, Abgeordnete noch Journalist*innen haben offiziell Zugang, jedoch leben in dieser Zone etwa 200.000 Menschen, die zum kleineren Teil humanitäre Hilfe für die Flüchtenden leisten. Die Einrichtung der Sperrzone verhindert auch das Monitoring und Verhindern von illegalen Pushbacks. Wenige Tage nach unserem Besuch hat das polnische oberste Gericht drei Journalist*innen freigesprochen, die aufgrund eines Aufenthalts in der Sperrzone verurteilt wurden und dieses Urteil angefochten hatten. Damit erklärte das Gericht auch das absolute Zugangsverbot für Hilfsorganisationen und Presse in der Sperrzone für verfassungswidrig und unverhältnismäßig. Das Urteil hebt zwar das Verbot nicht auf, kann aber richtungsweisend wirken.
Regelmäßig werden Geflüchtete von polnischen Grenzbeamt*innen nach Belarus gewaltsam zurückgedrängt, ohne dass sie die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Immer wieder werden auch Familien auf diese Art getrennt. Der Zugang zum Asylverfahren wird von den Supporter*innen derzeit erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch Eilverfahren eingeklagt. „Dies ist derzeit die einzige Möglichkeit aus dem Wald rauszukommen“ meinte auch Natalia von der fundacja ocalenia, die wie nachmittags im grenznahen Sokółka trafen. Die NGO arbeitet seit 2000 im Bereich der Integration, seit August 2021 aber vor allem mit humanitären Interventionen an der Grenze.
Bemerkenswert ist auch, dass vor allem Frauen sich in den aktuellen Herausforderungen engagieren, mit unheimlich großer Expertise.
In der Sperrzone agiert neben dem mächtigen Apparat von Grenzpolizei und Militär auch die paramilitärische Armee zur Territorialverteidigung, eine Art staatlich lizenzierter Bürgerwehr, die bewaffnet Geflüchtete jagt & Supporter*innen einschüchtert. Das ist schockierend. Denn, wie es ein Gesprächspartner später sinngemäß ausdrückte: „Geh in eine Nachbarschaft, wo viele Nazis leben, gib ihnen Uniformen und eine Waffe und sag ihnen, ihr seid jetzt eine Armee.“
Bei einem abendlichen Treffen – inzwischen waren wir in Hajnówka – bekamen wir komplett andere Eindrücke von Engagierten: „Die Sperrzone ist ein Fake. Natürlich gehen wir rein, supporten Menschen und holen sie raus.“, hieß es. Dieses humanistische grasroot-Handeln hat uns umgehauen. Genau so muss es sein. Hier hatten wir erstmals die Gelegenheit, zahlreiche Spenden zu übergeben. Zusammen hatten wir Bargeld, Handys und Powerbanks gesammelt. An dieser Stelle: danke an alle, die dazu beigetragen haben, die Aktivist:innen in Polen zu unterstützen! |